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Harry Goetz und seine Familie

Harry Goetz und seine Familie

 

Fotos seiner ermordeten Verwandten hatte Guni Kadmon mitgebracht zur Verlegung der Stolpersteine für Heymann Goetz, dessen Tochter Lilli und Schwiegersohn Karl Stern. Vergilbte Fotos und einen Kleiderbügel. Guni Kadmon zeigte den hölzernen Bügel allen, die sich am 13. Dezember 2012 in Eschweiler zusammen gefunden hatten, um Gedenksteine für die Opfer der Judenverfolgung im Straßenpflaster zu verlegen. „H. Goetz, Eschweiler“ steht auf dem Kleiderbügel. Vor Jahrzehnten hing er mit vielen weiteren gleichen Bügeln in dem Haus, vor dem nun die Stolpersteine verlegt sind. Es ist immer noch ein Herrenmodegeschäft, aber es steht ein anderer Name über dem Portal, und der Bügel, den der Urenkel des Firmengründers mitgebracht hatte, ist das einzige, was von der Firma Goetz an der Ecke Grabenstraße/Englerthstraße in Eschweiler geblieben ist.

 

Am 6. März 1901, „abends 6 Uhr“, so hatte er annonciert, eröffnete der Kaufmann Heymann Goetz das „Aachener Bekleidungs-Haus“ für Herrengarderobe, Knabenbekleidung und Schuhwaren in Eschweiler, in einem vierstöckigen Neubau an der Grabenstraße, die damals als Einkaufsstraße am Reißbrett entworfen worden war - siehe das Foto weiter unten. Goetz warb mit „streng festen, aber billigen Preisen“ und „Verkauf nur gegen Baar“. Kein Rabatt, kein Anschreiben, stattdessen immer wieder Sonderangebote. Das Geschäftsmodell war für die damalige Zeit ungewöhnlich und sofort erfolgreich. In Alsdorf eröffnete er sogar eine Filiale, die von seiner Frau Thekla geleitet wurde. Im Jahr 1926, beim 25-jährigen Bestehen, hatte Goetz die höchste Steuersumme aller jüdischen Geschäftsleute aus Eschweiler. Er war Vorsteher der Synagogengemeinde und Vorsitzender von Chewras Dallim, der Wanderfürsorge, einem der drei Vereine zur Wohlfahrtspflege innerhalb der Synagogengemeinde.

 

Heymann Goetz, geboren am 1. November 1867, stammte allerdings nicht aus Eschweiler oder Aachen (wie der Name seines Bekleidungshauses nahelegt), sondern aus Briesen, einer Kleinstadt in Westpreußen, 40 Kilometer nordöstlich von Thorn. Als kaufmännischer Angestellter hatte er in mehreren großen Städten gearbeitet, bevor er sich in Eschweiler selbständig machte. Damals, 1901, war er 31 Jahre alt. Seine Frau Thekla geborene Eichwald, die aus Dortmund stammte, war drei Jahre älter als er. Zwei Mädchen gehörten zu der Familie: Lilli Goetz war am 11.Juli 1895 in Husum zur Welt gekommen, Erna am 10. August 1898 in Krefeld.

 

Der Vorname Heymann steht in den Urkunden, aber sonst fast nirgends, nicht einmal in der Steuerliste der Synagogengemeinde. In Eschweiler war er Harry Goetz. Julius Kaufmann-Kadmon (1887-1955), Sohn des Eschweiler Kaufmanns Hermann Kaufmann, wuchs nur wenige Häuser entfernt vom Bekleidungshaus Goetz auf. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er: „Als ich etwa 14 Jahre alt war, zog Herr Heymann, der klein und sehr rundlich war, genannt Harry Goetz, nach Eschweiler. Von seinen zwei Töchtern kam die ältere Lilli mit ihrem Mann Karl unter den Nazis in einem Konzentrationslager um.“

 

Lilli Goetz hatte im Geschäft ihres Vaters gelernt, sie heiratete am 8. September 1922 den aus Westbüderich in Westfalen stammenden, am 29. Dezember 1884 geborenen Kaufmann Karl Stern, der Juniorchef des Bekleidungshauses wurde. Wenige Wochen später, am 20. Oktober 1922, starb ihre Mutter Thekla Goetz „nach kurzer schwerer Krankheit“, wie es in den Nachrufen hieß. Sie sei eine „nette, resolute und sozial eingestellte Frau“ gewesen, erinnert sich Julius Kaufmann.

 

Erna, die jüngere Tochter der Familie Goetz, studierte in Berlin Medizin, wurde Augenärztin, erwarb den Doktortitel und heiratete 1925 den Berliner Rechtsanwalt und Notar Martin Sigbert Wolfsohn. Ihre Tochter Susanne/Shoshana, 1930 in Berlin geboren, wuchs nach der Emigration der Familie Wolfsohn in Israel auf und lernte dort Naftali Kadmon kennen und lieben – den Sohn des Nachbarjungen von einst, des oben erwähnten Julius Kaufmann aus Eschweiler. Shoshana Kadmon, ihr Sohn Guni und drei Enkeltöchter reisten im Dezember 2012 nach Eschweiler, um bei der Verlegung der Stolpersteine für Harry Goetz, Lilli und Karl Stern dabei zu sein.

 

In der so genannten Reichskristallnacht im November 1938 wurden das Geschäft und die Privaträume der Familie Goetz an der Grabenstraße zerstört. Der Eschweiler Lokalhistoriker Rudolf Briefs gibt in seiner Veröffentlichung „Jüdische Familien in Eschweiler und Weisweiler“ die Erinnerungen eines leider ungenannten Zeitzeugen wieder: „Als wir von der Schule nach Hause gingen, sahen wir uns neugierig die zerstörten Geschäfte und die qualmenden Reste der Synagoge an. An der Ecke Grabenstraße/Englerthstraße hatte der Jude Götz sein Geschäft. Auch hier war alles zerstört. Wir sahen, wie der Kaufmann den SA-Leuten gerade sein EK I (Eisernes Kreuz Erster Klasse) entgegen hielt und sagte, er habe im Krieg für Deutschland sein Leben eingesetzt, das sei nun der Dank des Vaterlandes. Die Kriegsauszeichnung wurde ihm aus der Hand geschlagen. Er erhielt einen Schlag in den Magen und wurde, auf der Erde liegend, mit Fußtritten traktiert.“ So einprägsam das Beobachten einer solchen Szene ist – wahrscheinlich hat der Zeitzeuge als Kind damals nicht Harry Goetz, sondern dessen Schwiegersohn Karl Stern gesehen. Harry Goetz war beim Beginn des 1. Weltkriegs bereits 46 Jahre alt, es ist wenig wahrscheinlich, dass er noch als Soldat zum Einsatz kam.

Harry Goetz wurde gezwungen, sein Geschäft zu verkaufen. Am 13. Juli 1939 meldete er sich zusammen mit Lilli und Karl Stern nach Aachen ab. Zu einem noch nicht bekannten Zeitpunkt wurden alle drei gezwungen, im Ghetto Grüner Weg in Aachen zu leben. Vom Lager Grüner Weg aus wurde Goetz, damals bereits 74 Jahre alt, am 25. Juli 1942 mit dem Reichsbahn-Transport VII/2 von Aachen in das Ghetto Theresienstadt gebracht. Am 21. September 1942 wurde er mit dem Transport Bp, Häftlingsnummer 1293, weiter geschickt in das Vernichtungslager Treblinka. Seine Tochter Lilli und ihr Mann Karl wurden wahrscheinlich im KZ Majdanek ermordet.

 

Heinz Stern, der 1923 geborene Sohn von Lilli und Karl Stern, entkam als Waise der Judenvernichtung. Er war ab 1937 in Lüttich, wo er eine Maschinenbau-Schule besuchte. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien wurde er an verschiedenen Wohnorten versteckt und konnte so überleben. Mit der Familie seiner Tante in Israel hat es nach Auskunft der Familie in der Nachkriegszeit aber nur einmal ein Treffen gegeben. Das Bild links zeigt ihn etwa 1928 mit seinem Großvater vor dem Eingang des Geschäftshauses an der Grabenstraße.

 

Durch die Heirat von Naftali Kadmon und Shoshana Wolfsohn ist die Familie Goetz auch mit der Aachener Familie Weisbecker verbunden. Julius Kaufmann-Kadmon war verheiratet mit Elsa, der Tochter von Salomon Weisbecker, der mit seiner zweiten Frau Henriette der Judenvernichtung zum Opfer fiel.

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