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Familie Neustadt

 

Eine Skizze des Stammbaums der Familie Neustadt, soweit die Verwandtschaftsbeziehungen und die Familienangehörigen bereits bekannt sind.

 

Kein Gedenken, keine Hinterbliebenen:
Niemand aus der Familie Neustadt entkam der Vernichtung

 

Alle drei Angehörigen der Familie Neustadt, die in den 30-er Jahren noch in Weisweiler lebten, wurden Opfer der Judenvernichtung: der Kaufmann Leo Neustadt, seine Schwester Rosa und deren Sohn Carl. Ob entfernte Verwandte überlebt haben, ist nicht bekannt. Die Weisweiler Familie Neustadt hörte 1942 auf, zu existieren. Wann und wo sie ermordet wurden, ist nur bei Leo Neustadt mit einiger Sicherheit zu sagen. Das Lebensende von Rosa und Carl Neustadt liegt trotz intensiver Forschung weiter im Dunkel.

 

Anders als die Familien Levenbach und Levy gehörten die Neustadts nicht zu den alt eingesessenen jüdischen Familien von Weisweiler. Zwar hatten der Handelsmann Salomon Neustadt und die Kleinhändlerin Friederika Luccas 1895 in Weisweiler Hochzeit gefeiert und ihre Ehe vor dem zuständigen Standesamt Langerwehe geschlossen, aber beide stammten nicht aus Weisweiler. Und nach der Hochzeit zogen sie zunächst nach Manheim, einem Ort nahe Buir, der heute zur Stadt Kerpen gehört (und in wenigen Jahren wegen der Braunkohlenförderung des Tagebaus Hambach abgebaggert werden soll). Dort kamen auch ihre beiden Kinder Leo und Rosa zur Welt. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zog die Familie dann aber nach Weisweiler. Das Weisweiler Adressbuch von 1907 führt den Häutehändler Salomon Neustadt mit der Anschrift Hauptstraße 164 auf. Das ist das heutige Haus Hauptstraße 4. Der Handel mit Tierhäuten und Fellen muss durchaus einträglich gewesen sein: die Neustadts waren Eigentümer des dicht am Marktplatz des Ortes, dem heutigen Frankenplatz, gelegenen Hauses.

 

Friederika Luccas, die bei ihrer Heirat mit Salomon Neustadt in Weisweiler wohnte, stammte aus Langweiler, einem kleinen Ort nördlich von Eschweiler mit einer starken jüdischen Landgemeinde, die sogar ein eigenes Schulhaus hatte. Dort wurden auch die jüdischen Kinder aus den Nachbarorten unterrichtet. In Langweiler wurde Friederika Luccas am 17. Oktober 1853 geboren. Eine Verwandtschaft mit der so genannten Herrschaft, der in Raum Hoengen/Langweiler ansässigen jüdischen Großfamilie Lucas, ist aber nicht nachgewiesen. Ihre Eltern, Daniel Luccas und Zorla geborene Löwenstein, wohnten zuletzt im benachbarten Dorf Obermerz. Langweiler und auch Obermerz sind Anfang der 1970er Jahre dem Braunkohlentagebau zum Opfer gefallen. Wie Friederika Luccas nach Weisweiler geriet und dort als Kleinhändlerin ihren Lebensunterhalt verdiente, ist noch ungeklärt. Bei der Heirat mit Salomon Neustadt war sie bereits 42 Jahre alt, sieben Jahre älter als er.

Salomon Neustadts Familie stammte aus Groß-Boslar. Das ist der heutige Ort Boslar, der zur Stadt Linnich an der Rur gehört. Der Ort wurde früher Groß-Boslar genannt, um eine Verwechslung mit Kleinbouslar bei Erkelenz zu vermeiden. In Groß-Boslar wurde um 1831 Salomons Vater Samuel Neustadt geboren. Von dessen Eltern ist nur der Name des Vaters, Levy, überliefert. Von Samuel Neustadts Ehefrau Sophia geborene Levy ist bislang weder Herkunft noch Geburts- und Sterbedatum, sondern nur der Name bekannt.

 

Das Ehepaar Samuel und Sophia Neustadt lebte in Merken, heute ein Stadtteil von Düren, dort kamen auch ihre Kinder zur Welt. Bislang sind zwei Kinder bekannt: Theresa, geboren am 5. August 1858, und Salomon, der am 30. August 1860 zur Welt kam. Für Theresa, die offenbar unverheiratet am 15. Februar 1896 starb, ist ein Grabstein auf dem jüdischen Friedhof von Düren erhalten, auf dem um „meine liebe Tochter“ und „meine liebe Schwester“ getrauert wird, als Hinterbliebener wird ein „Schmuel“ genannt, also offensichtlich der Vater Samuel. Die Inschrift lässt vermuten, dass die Mutter Sophie 1896 bereits verstorben war und es außer Salomon keine Geschwister gab. Der nach dem Tod der Tochter wahrscheinlich allein stehende Vater zog aus Merken fort und lebte bei der Familie seines Sohnes Salomon – ob bereits in Manheim oder erst später in Weisweiler, ist noch nicht geklärt.

 

Salomon Neustadt, zwei Jahre jünger als seine Schwester Theresa, wohnte auch als 35-Jähriger noch in Merken, wie aus seiner Heiratsurkunde vom 13. Dezember 1895 hervor geht. Er muss dann aber sehr bald mit seiner 42-jährigen Frau Friederika nach Manheim gezogen sein. Dort wurden ihre beiden Kinder geboren: am 28. Januar 1897 ein Junge, der den Namen Herz Lewi erhielt, am 18. Juli 1898 ein Mädchen, es wurde Sara genannt. Auf der Geburtsurkunde von Herz Lewi ist eingetragen, dass er am 21. Februar 1925 beim Amtsgericht Düren seinen Vornamen in „Leo“ geändert hat. Auch Sara Neustadt änderte ihren Vornamen, allerdings gibt es darüber keine amtliche Eintragung. Sie nannte sich Rosa.

Zum Bild links: „Der Kaufmann Herz Lewi Neustadt aus Weisweiler, dessen Geburt nebenstehend beurkundet ist, wird aufgrund der Verordnung vom 3. November 1919 (…) ermächtigt, statt der bisherigen Vornamen fortan den Vornamen „Leo“ zu führen. Buir, den 11. März 1925“. Eintragung auf der Geburtsurkunde von Leo Neustadt.

 

Wann zog die nun vierköpfige Familie von Manheim nach Weisweiler? Es muss spätestens Anfang 1907 gewesen sein, denn im Adressbuch des Jahres 1907 wird Salomon Neustadt erstmals aufgeführt. Sein Vater Samuel wohnte ebenfalls in Weisweiler. Er starb, 76 Jahre alt, am 14. April 1908 im St.-Antonius-Hospital, dem Krankenhaus der Nachbarstadt Eschweiler. Sein Sohn Salomon erreichte nicht dieses Alter. Am 26. September 1928, nachmittags um halb Vier, starb er im Alter von 68 Jahren an Magenkrebs. Ehefrau Friederika überlebte ihn um fast sieben Jahre, sie starb am 23. Juli 1935 im Alter von 81 Jahren an Altersschwäche, wie ihr Arzt Dr. Kindt in die Todesbescheinigung eintrug.

 

Sehr genau lassen sich bei den Eltern auch heute noch Todesursache, Todestag und -stunde dokumentieren. Bei den Kindern und dem Enkelkind hingegen sind die Daten ungesichert, gibt es mehr Vermutungen als Fakten. Denn alle drei wurden deportiert und ermordet, amtliche Unterlagen darüber vernichtet. Es gibt keine Nachkommen, die überlebt haben und aus deren Erinnerung Fakten hätten rekonstruiert werden können.

 

Die beiden Kinder von Friederika und Salomon Neustadt, Herz Lewi (Leo) und auch Sara (Rosa), blieben unverheiratet. Sie führten gemeinsam ein wahrscheinlich schon von ihren Eltern gegründetes Einzelhandelsgeschäft im Hause Hauptstraße 4. Im Adressbuch 1929 wird es als Manufakturwarengeschäft bezeichnet. Als 18-Jährige war Rosa Neustadt Mutter geworden, sie brachte am 21. März 1917, also während des 1. Weltkriegs, ihren Sohn Carl zur Welt. Der Name des Vaters ist nicht bekannt. Der spätere Beruf von Carl Neustadt ist nicht überliefert. Zeitzeugen erinnern sich, dass er für die örtliche Bäckerei Mock zeitweise Brot ausgefahren hat. Sicher wird er auch im Ladengeschäft seiner Mutter und ihres Bruders mitgeholfen haben.

Bei den Novemberpogromen 1938 warfen der Weisweiler Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter Heinrich Löltgen, der SA-Obertruppführer Johann Zetting sowie Johann Mallmann, Gefolgschaftsführer der Hitlerjugend, unter anderem auch die Schaufensterscheiben des Neustadt'schen Hauses ein. Sie stiegen in den Laden ein, Löltgen warf dort alles durcheinander, berichtet der Weisweiler Lokalhistoriker Edmund Schain in seinem 2013 erschienenen Buch „Weisweiler“: „Eine Stunde lang wüteten die drei Nationalsozialisten in den beiden Weisweiler Läden.“ 

Wenige Wochen später, am 15. Dezember 1938, verkauften die Neustadts ihr demoliertes Haus, wohnten dort aber weiter beim Neubesitzer Franz Vetten zur Miete. Eventuell hat Rosa Neustadt allein über den Verkauf des Hauses entscheiden müssen. Leo Neustadt war nach der Pogromnacht verhaftet worden, er war vom 10. November bis zum 20. Dezember im Konzentrationslager Sachsenhausen.

Während Rosa und Carl Neustadt bis zu ihrer Deportation 1942, also noch über drei Jahre, nun als Mieter in ihrem Haus in Weisweiler wohnten, wurde Leo Neustadt ab November 1941, eventuell auch schon mehrere Monate früher, als Zwangsarbeiter in ein Lager eingewiesen.

 

Von März bis November 1941 bauten rund 30 jüdische Zwangsarbeiter – manche von ihnen noch wenige Jahre vorher Geschäftsinhaber und Fabrikanten – die „Himmelsleiter“ genannte Landstraße, heute Teil der Bundesstraße 258, von Friesenrath bei Aachen hinauf zum Eifeldorf Roetgen. Unter ihnen waren aus Weisweiler der Zigarrenmacher und Einzelhändler Moritz Levy und aus Eschweiler der junge Simon Meyer. Das Lager, in dem diese Zwangsarbeiter untergebracht waren, war das zweckentfremdete Pfarrheim der katholischen Gemeinde St. Anna Walheim. Möglicherweise war auch Leo Neustadt dort und wechselte im November 1941 gemeinsam mit den beiden anderen Erwähnten, Moritz Levy und Simon Meyer, in das Zwangsarbeiter-Lager Rhenaniastraße in Stolberg (siehe Foto: Ausschnitt der Lager-Statistik). Die dort internierten 90 Jüdinnen und Juden, die aus vielen Orten des Rheinlands stammten, wurden unter härtesten Arbeitsbedingungen in drei kriegswichtigen Stolberger Industriebetrieben ausgebeutet. Dieses Lager wurde Mitte Juni 1942 aufgelöst, die dort noch internierten Juden, darunter auch Leo Neustadt, wurden von der Stadtverwaltung Stolberg mit dem Datum 15.06.1942 nach Aachen abgemeldet. 15.06.1942 – an diesem Tag fuhr ab dem Aachener Bahnhof ein Zug mit 1003 Juden in das Vernichtungslager Sobibor. Rund hundert Männer aus diesem Transport wurden nicht in Sobibor, sondern in Majdanek umgebracht.

 

So wahrscheinlich es ist, dass Leo Neustadt einer der 1003 Juden im Transport Da 22 Aachen-Sobibor war – ganz sicher ist es nicht. Möglich ist auch, dass er zunächst noch im Lager „Grüner Weg“ in Aachen weiter festgehalten und mit einem späteren Transport deportiert wurde. Mehrere Quellen, darunter die israelische Gedenkstätte Yad Vashem, nennen für ihn das Vernichtungslager Majdanek mit dem Datum 17.09.1942 als Ort der Ermordung. Das Gedenkbuch der Bundesrepublik hingegen versichert, Neustadt sei am 11. Juni 1942 von Frankfurt am Main aus deportiert worden, mit einem Zug, dessen Insassen teilweise in Majdanek, teilweise in Sobibor ermordet wurden. Diese Angabe ist höchstwahrscheinlich falsch: am 11. Juni schuftete Leo Neustadt noch als Zwangsarbeiter in einer Stolberger Fabrik.

 

Noch unsicherer ist die Datenlage für das Schicksal von Leos Schwester Rosa und ihrem Sohn Carl. Irgendwann im Jahr 1942, das Datum ist bisher nicht bekannt, bekamen die wenigen Juden, die noch in Weisweiler wohnten, die Aufforderung, sich in Düren zur Umsiedlung zu melden. Die Tochter von Franz Vetten – dem Käufer des Hauses Hauptstraße 4 – hat sich in einem Gespräch mit Lokalhistoriker Edmund Schain erinnert, ihr Vater sei am gleichen Tag noch nach Düren gefahren, um mit Rosa und Carl Neustadt irgend etwas zu bereden oder ihnen noch etwas zu bringen, er habe die beiden aber unter den vielen Menschen auf dem Sammelplatz nicht gefunden.

 

Für die Deportation der Weisweiler Juden ab Bahnhof Düren kommen sechs Züge im Zeitraum 19. März bis 25. Juli 1942 infrage. In welchem dieser Züge Rosa und Carl Neustadt saßen und wohin ihre Fahrt ging – ob ins Ghetto Minsk, ins Ghetto Theresienstadt oder nach Izbica, ob ins Lager Majdanek oder Sobibor – es war eine Fahrt in den Tod. Bisher erinnert keine der großen, im Internet stehenden Gedenkseiten an Rosa Neustadt und an ihren Sohn. Ihre Namen tauchen weder im Gedenkbuch der Bundesrepublik noch bei Yad Vashem auf. Es gibt keinen Gedenkstein, keine Spuren im Internet, keine offizielle Todeserklärung – es ist, als hätten sie nie gelebt.

 

Das hat sich erst jetzt geändert. Am 13. Dezember 2014 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig unter großer Anteilnahme aus der Weisweiler und Eschweiler Bürgerschaft Stolpersteine mit dem Namen der Opfer vor dem Haus Hauptstraße 4.

Friedhelm Ebbecke-Bückendorf

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