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Fred Voss

Fred Voss bei seiner Ansprache vor den Abiturienten der Lansing High School am 22. Juni 2012.


Im Juli 2012 erschien der unten folgende, hier etwas abgeänderte Text über Fred Voss aus Aachen in den beiden großen Aachener Tageszeitungen. Dass ich diese Geschichte schreiben durfte und konnte, habe ich natürlich zuallererst Fred Voss selber zu danken, der alle meine neugierigen Fragen ausführlich beantwortete, ebenso aber auch seinen Freunden in Deutschland, besonders Stefan Kahlen, der ein Buch über die Würselener Familie Voss geschrieben hat: Far away from Würselen.

Auf diese Internetseite setzte ich die Geschichte, weil es im Leben von Fred Voss auch einen Bezug zu Eschweiler gibt. Die Familie des Metzgers Leo Stiel, eines Eschweiler Juden, ist mit ihm verwandt.

 

 

Opfer der Nazis macht Abitur mit 92 Jahren

77 Jahre, nachdem er in Aachen als Jude von der Schule gejagt wurde, bekommt Fred Voss in den USA das Highschool-Diplom. Er widmet es den anderthalb Millionen Kindern, die der Judenvernichtung zum Opfer fielen.

 

"Und hier ist es! 77 Jahre habe ich darauf gewartet!“ Fred Voss reckt die Urkunde hoch, zeigt sie allen. Jubelrufe auf dem Sportplatz der Lansing High School im Staat New York. Die Schüler, Lehrer und Eltern springen auf und klatschen Beifall. Fred Voss hat gerade sein Highschool-Diplom bekommen. Er ist 92 Jahre alt – der älteste Bürger der USA, der je dieses Diplom erhalten hat. Fernsehen und Zeitungen berichten. „Jetzt könnte ich auch studieren“, sagt er. „Aber dafür bin ich wohl doch zu alt.“

77 Jahre vor dieser Feier am 22. Juni war Fred (damals Alfred) Voss als 15-Jähriger in seiner Heimatstadt Aachen von der Schule gejagt worden, wie alle jüdischen Kinder. Kein Schulabschluss, weder Mittlere Reife noch Abitur. Schon vor dem Rauswurf im März 1935 war die Zeit an der Knaben-Mittelschule in der Sandkaulstraße eine Tortur. In seinen 2004 erschienenen Memoiren berichtet Fred Voss von Erlebnissen, die er nie vergessen kann: „Unser Musiklehrer, ein hoch gebildeter Mann, trug auch im Unterricht die Uniform der Nazis. Er fand ein krankhaftes Vergnügen daran, uns jüdische Schüler stramm stehen zu lassen, während alle anderen Kinder singen mussten: Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht's nochmal so gut.“

1945, nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs, kam Voss – er hatte sich nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbour als Kriegsfreiwilliger gemeldet – als Soldat der US-Army zurück nach Aachen. Er lief durch seine zerbombte Heimatstadt, stand vor den Ruinen seines Elternhauses, das bei einem britischen Luftangriff zerstört worden war - das Bild rechts zeigt ihn vor diesem Haus Burtscheider Straße 32, Ecke Krugenofen. Und er suchte diesen Musiklehrer, „der mein Leben zu einem Albtraum gemacht hatte“. Aber er hat ihn nicht gefunden. Stattdessen fand er eine alte Frau, eine Nachbarin, die seinen Eltern während der Nazizeit unter Lebensgefahr heimlich Lebensmittel zugesteckt hatte. Jetzt konnte er ihr Lebensmittel-Pakete von Verwandten in den USA bringen.

62 Verwandte und Freunde von Fred Voss und seiner Frau Ilse sind in der Nazizeit ermordet worden oder gelten als verschollen. Darunter sind auch drei Menschen aus Eschweiler: Der Metzger Leo Stiel, der „Stiel an der Brück“ genannt wurde, weil sein Geschäft im Eckhaus Grabenstraße/Judenstraße direkt an der Indebrücke lag, und seine Kinder Friederika und Heinz. Leo Stiels Bruder Albert war mit Berta Voss verheiratet, der Schwester von Fred Voss' Vater Julius. Das Schicksal von Leo Stiel aus Eschweiler und seinem Sohn Heinz ist bis heute ungeklärt. Es ist sogar möglich, dass sie der Vernichtung entkommen sind. In einer Aktennotiz der Stadt Eschweiler, gefertigt mehrere Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, steht, Leo Stiel sei nach Rhodesien ausgewandert. Sicher ist leider, dass seine Tochter Friederika, ein Jahr jünger als ihr Aachener Verwandter Fred Voss, 1942 in Auschwitz ermordet wurde. Zu ihrem Gedenken hat der Künstler Gunter Demnig im Dezember vorigen Jahres einen so genannten Stolperstein in Eschweiler verlegt.

Nationalbewusstes Elternhaus

„Zuallererst waren wir Deutsche. Und zweitens und drittens: Wir waren Deutsche. In unserem Wohnzimmer hingen die Porträts der Preußenkönige, im Esszimmer die Bilder von Bismarck und Hindenburg“. So beginnt das Erinnerungsbuch „Miracles, Milestones & Memories“ von Fred Voss. Der Vater Julius Voss war im Ersten Weltkrieg Soldat, ebenso dessen Brüder. Dass ein „Ausländer wie der Herr Hitler“ erklären konnte, die deutschen Juden seien keine Deutschen, darüber habe man gelacht, erinnerte sich Fred Voss' Bruder Ed (Emil Voss), dessen Erinnerungen in das Buch eingeflossen sind, an seine Kindheit in Aachen.
 

Vater Julius Voss stammte aus Würselen. Er heiratete 1912 die im Haus Markt 4 in Aachen geborene Else Kaufmann. Gemeinsam führte das Ehepaar in der Burtscheider Straße 32, wo Alfred Voss 1920 als zweites Kind geboren wurde, einen Textilhandel. Im Nachbarhaus war eine Bäckerei. „Ich rieche heute noch den Kuchenduft“, schreibt der 92-Jährige. Sein Vater Julius Voss war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Aus dem Textilladen wurde ein Großhandel, Personal wurde eingestellt, sogar ein Chauffeur.

Mit Stockschlägen ins KZ

Alles das endete, nach Jahren der immer größeren Drangsal, in der so genannten Kristallnacht im November 1938, als die Aachener Synagoge in Flammen aufging und die Läden jüdischer Geschäftsleute zertrümmert und geplündert wurden. Auch im Haus der Familie Voss wurde jedes Stück Porzellan zerschlagen, jedes Möbelstück zertrümmert, jedes Kissen aufgeschlitzt, mit Bajonetten ein wertvolles Gemälde zerfetzt. Julius Voss wurde verhaftet. Ob er sich noch einen Mantel holen dürfte? „Wo du hin kommst, wirst du nie mehr einen Mantel brauchen!“ Er und weitere rund 70 jüdische Bürger aus Aachen wurden in einer Turnhalle an der Oligsbendenstraße interniert, nach zwei Tagen ohne Essen und Trinken dann mit Stockschlägen durch Aachen getrieben und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Nach zehn Wochen wurde er entlassen. Die Familie ließ alle Habe zurück und emigrierte.

Über Verwandte in Brüssel floh die Familie Voss zunächst nach London. Dort lernte Fred Voss seine künftige Frau Ilse Machauf kennen. Sie stammte aus Wien und hatte es geschafft, als Au-pair-Mädchen nach England zu gelangen. Ihr Vater, ihr Bruder und viele weitere Verwandte beider Familien wurden später Opfer der Judenvernichtung. Erst nach dem Krieg, 1946, konnten Fred Voss und Ilse Machauf heiraten. Die Ehe hält noch heute, und „es vergeht kein Tag, an dem wir uns nicht sagen: I love you“.

Manager in der Textilindustrie

In der Nachkriegszeit machte Fred Voss in den USA Karriere als Direktor in einem Unternehmen der Textilindustrie. Die Basis dazu hatte er als Jugendlicher in Aachen gelegt. Nachdem er die Schule hatte verlassen müssen, war er als Lehrling in der jüdischen Tuchfabrik Meyerfeld & Herz untergekommen. Er blieb dort, bis die Fabrik arisiert, also zu einem niedrigen Preis an neue, arisch reinrassige Eigentümer überschrieben wurde.

1986 ging Voss nach 30 Jahren in der selben Firma in den Ruhestand. Und begann gleich zwei neue Karrieren. Eine als Reiseleiter – das waren glückliche Jahre, sie endeten 2001 mit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York. Und eine ganz private, ehrenamtliche Karriere als Vortragsredner, der vom Holocaust erzählt und sich gegen Hass und gegen Vorurteile überall in der Welt einsetzt. „Ich habe es zu meiner Mission gemacht, laut und klar gegen allen Hass zu sprechen, so lange ich die Kraft dazu habe.“ Ehefrau Ilse war dabei immer an seiner Seite. „Sie hat mich ermutigt, niemals aufzuhören und immer die Wahrheit zu sagen.“

Schon Jahre vorher hatte Fred Voss sich immer wieder für Werte wie Gleichberechtigung, Toleranz und Menschenrechte eingesetzt, auch gegen Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung argumentiert. Er und seine Frau Ilse gehören zu den Gründungsmitgliedern und Förderern des Holocaust Memorials in Washington, und mit einem Besuch dieses Museums begann auch sein Wirken als Vortragsredner. „Vorher“, sagt er, „habe ich nie öffentlich über den Holocaust gesprochen“. Nun hatte ihn ein Mitglied seiner Synagogengemeinde gebeten, bei einer Busfahrt zu dem Museum über sein Leben zu erzählen. Dass ein Reporter mit an Bord war, wusste er nicht. Dessen Bericht kam auf die Titelseite einer Tageszeitung, und das Leben von Fred Voss erhielt eine neue Wendung.

Vorträge über den Holocaust

In den folgenden Jahren sprach Voss in Universitäten und Schulen, in Kirchen, Tempeln und Wohltätigkeitsclubs. Er beantwortete hunderte Briefe von Kindern und Jugendlichen und erreichte viele tausend meist junge Menschen. Als er 2002 aus Altersgründen nach Ithaka NY zog, wo auch seine Kinder und Enkel leben, begann seine Zusammenarbeit mit der Lansing High School.

Lehrerin June Martin (auf dem Bild links begleitet sie Voss unter dem Beifall der Schüler zu seinem Platz) würdigte bei der Schulfeier sein Wirken: Fred Voss habe in den vergangenen zehn Jahren mit seinem Wissen um die Geschichte und mit seinem Einsatz gegen Hass, gegen Vorurteile und für mehr Toleranz und Gerechtigkeit das Leben von tausenden Schülern bereichert. Er könne Menschen bewegen, sich einzusetzen für eine bessere Zukunft für alle Menschen.

In seiner Dankesrede widmete Fred Voss sein Diplom den anderthalb Millionen Kindern und Jugendlichen, die dem Terror der Nazis zum Opfer gefallen sind, und allen Menschen, denen wie ihm selber das Recht auf Ausbildung verweigert worden ist: „Die Welt wird niemals wissen, wie viele hervorragende zukünftige Gelehrte dadurch verloren wurden, und wie vielen Kindern es unmöglich gemacht wurde, zum Glück aller Menschen beizutragen und eine bessere Welt für uns und unsere Kindern und Enkel möglich zu machten.“

Friedhelm Ebbecke-Bückendorf

 

Die Lebenserinnerungen von Fred Voss sind in englischer Sprache unter dem Titel „Miracles, Milestones & Memories“ im Verlag Seavoss Associates Inc. (Ithaka, NY, USA) erschienen. Das Buch, das auch viele Details über das Leben in Aachen und Würselen enthält, ist über Internet-Versender wie Amazon auch in Deutschland erhältlich.

 

 

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